Neonatologie: Alarmine regulieren die Erstmikrobiota bei Neugeborenen

Prof. Dr. med. Dorothee Viemann

In den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach der Geburt reift das kindliche Immunsystem über enge Wechselwirkungen mit dem Darmmikrobiom heran. Siedelt sich in dieser Zeit eine gesunde Mikrobiota an, entwickelt sich eine Immun-Homöostase, also eine Balance von Toleranz- und Abwehrmechanismen, die lebenslang vor vielen Krankheiten schützt. Etabliert sich zu Beginn des Lebens eine dysbiotische Mikrobiota, verschiebt sich die Immunadaptation zugunsten proinflammatorischer Aktivitäten, was früher oder später zur Entwicklung chronisch-entzündlicher Krankheiten führen und die Anfälligkeit für Infektionen erhöhen kann.1

 

Alarmine fördern die Immunadaptation

Es ist bekannt, dass sich bei natürlich geborenen und gestillten Neugeborenen eine günstige Erstmikrobiota ansiedelt. Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover haben nun herausgefunden, dass S100-Alarmine dabei eine Schlüsselrolle spielen. Diese Immunregulatoren kommen im Serum und Darm gesunder Neugeborener sowie in der Muttermilch in sehr hohen Konzentrationen vor. Der Grund: S100-Alarmine programmieren die angeborenen Immunzellen in Richtung tolerant, damit sie auf den Ansturm an Bakterien und Fremdstoffen nach der Geburt nicht mit massiven Entzündungen reagieren und die Kolonisierung des Darms mit kommensalen Bakterien zulassen.2

 

Dysbioserisiko bei Frühgeburt

Die höchsten Werte an S100-Alarminen wurden bei reif und spontan geborenen Säuglingen gemessen; bei Frühgeborenen und nach einer Sectio waren sie deutlich niedriger. Eine mangelnde Exposition des Neugeborenen mit S100-Alarminen stört aber nicht nur die Immuntoleranz, sondern auch eine gesunde Kolonisierung des Darms. Dies zeigen Untersuchungen an Knockout-Mäusen, denen die neonatale Versorgung mit S100-Alarminen fehlt: Bei ihnen kam es zur Überbesiedlung mit Escherichia coli, einem etablierten Dysbiose-Marker. Die enterale Zufuhr von S100-Alarminen konnte die Überbesiedlung mit Colibakterien verhindern.3

Auch beim Menschen hängt eine gesunde Darmbesiedlung von der S100-Alarminkonzentration ab. Bei 72 gesunden, reif geborenen und gestillten Säuglingen waren hohe und mittlere S100-Alarminspiegel im Stuhl mit der Expansion von positiven Keimen assoziiert, bei niedrigen Spiegeln nahmen negative Keime zu, die potenziell pathogen wirken.3

 

Schützen S-100-Alarmine vor Sepsis?

Klinisch relevant sind diese Erkenntnisse bei Krankheiten, die mit Dysbiose und einer gestörten Immunadaptation einhergehen, wie die nekrotisierende Enterokolitis und neonatale Sepsis. Bei beiden Krankheiten ist die intestinale Produktion von S100-Alarminen stark erniedrigt. Ob eine Substitution von S100-Alarminen das Sepsisrisiko von Neu- und v.a. Frühgeborenen senken kann, müssen nun klinische Studien zeigen. Bei Mäusen mit induzierter Sepsis ist dies bereits gelungen: Die enterale Gabe von S100 nach der Geburt verbesserte das Überleben signifikant.

 

Fazit für die Praxis

Die orale Supplementierung von S100-Alarminen ist ein vielversprechender präventiver Ansatz zur Förderung der Immunadaptation und Mikrobiomentwicklung bei Frühgeborenen und könnte dazu beitragen, Mikrobiota-bedingte Störungen im späteren Leben zu verhindern. 

 

Literatur:

1 Viemann D. Front Immunol 2020; 11: 688.

2 Ulas T et al. Nat Immunol. 2017 18(6):622-632.

3 Willer M et al. Gastroenterology. 2020; 159(6):2130-2145.e5.

Bild-Quelle: Viemann, privat

Aus: Newsletter 2/2021, Hamburger Expertenkreis Mikrobiom (Initiative der FERRING Arzneimittel GmbH)