Mikrobiom und Multiple Sklerose: Beginnt die Neuroinflammation im Darm?

Dr. rer. nat. Gurumoorthy Krishnamoorthy

Das Mikrobiom kann je nach Zusammensetzung die Entstehung von Multipler Sklerose triggern oder davor schützen. Den aktuellen Wissensstand erläutert Dr. rer. nat. Gurumoorthy Krishnamoorthy, Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried.

Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Die komplexe Pathologie beruht auf einer fehlgeleiteten Immunkaskade: Autoaggressive T-Zellen wandern ins Gehirn ein und locken weitere Immunzellen wie Makrophagen und Autoantiköper produzierende B-Zellen an. Diese greifen die Myelinscheiden der Neuronen an und lösen sie auf, was letztlich zum Untergang der Zellen führt.1

Darmbakterien als Trigger

Wo und wie diese pathogenen Autoimmunantworten entstehen, ist bislang nicht vollständig verstanden. Vermutlich spielen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine Rolle. In den letzten Jahren verdichten sich Hinweise, dass das Mikrobiom ein zentraler Trigger ist.

Der Nachweis gelang erstmals in einer Studie mit keimfreien, genveränderten Mäusen, die besonders anfällig für eine MS-ähnliche Hirnentzündung sind – die Experimentelle Autoimmune Enzephalomyelitis (EAE). Während die meisten Tiere unter keimfreien Bedingungen gesund blieben, erkrankten sie mit hoher Inzidenz an EAE, wenn der Darm mit normaler Mikrobiota kolonisiert wurde.2

Dass die Mikrobiota auch bei der Entstehung von MS eine Rolle spielt, zeigt eine Studie mit 34 monozygoten, diskordanten Zwillingspaaren, von denen also nur ein Geschwister MS hat. Mikrobiomanalysen der Zwillingspaare ergaben ähnliche Profile; signifikante Unterschiede zeigten sich nur bei wenigen Spezies. Dann transferierten die Forscher die Mikrobiota der Zwillinge auf die keimfreien, genveränderten Mäuse. Diejenigen, die Mikrobiota der MS-kranken Zwillinge erhalten haben, entwickelten mehr als doppelt so häufig eine EAE als jene, denen die Mikrobiota der gesunden Zwillinge übertragen wurde.3

Protektive Spezies fehlen

Über welche Mechanismen das Mikrobiom die Entwicklung von MS beeinflusst, wird zunehmend aufgeklärt. Eine zentrale Aufgabe des Mikrobioms ist die Regulierung des mukosalen Immunsystems. Normalerweise hält es pro- und inflammatorische Immunzellen im Gleichgewicht. Kippt die Balance zugunsten von proinflammatorischen Zellen wie TH-17, kann dies zur Entstehung neuroinflammatorischer Prozesse beitragen. Es wurde gezeigt, dass die Mikrobiota sowohl die funktionelle Aktivität von im zentralen Nervensystem ansässigen Zellen als auch die Permeabilität der Blut-Hirnschranke modulieren kann.

Maus- und Humanstudien bestätigen das: Im Vergleich zu keimfreien Tieren ist im Darm mikrobiotabesiedelter Mäuse die Produktion sowohl proinflammatorischer TH-17-Zellen als auch Autoantikörper-produzierender B-Zellen erhöht – zwei Faktoren, die für die Entstehung von MS essenziell sind. Und die Zwillingsstudie

fand heraus, dass im Mikrobiom von MS-Patienten mikrobielle Faktoren fehlen, die antiinflammatorische Immunantworten induzieren. So sezernierten die T- Zellen der genveränderten Mäuse nach dem Mikrobiota-Transfer des kranken MS- Zwillings weniger von dem antiinflammatorischen Zytokin IL-10.3 Die Erklärung liegt vermutlich in den wenigen, aber wichtigen Unterschieden der Mikrobiomprofile: Bei den MS-kranken Geschwistern waren signifikant weniger Bakterien der Gattung Sutterella im Mikrobiom vertreten als bei den gesunden – und Sutterella induzieren die Produktion von IL-10 in T-Zellen. Ist dieses Zytokin ausreichend vorhanden, sind die Mäuse vor der Hirnentzündung geschützt. Fehlt es, bricht die Krankheit aus.

Prävention mit Ballaststoffen

Das Mikrobiom ist aber nicht nur potenzieller Trigger für Autoimmunität im zentralen Nervensystem, sondern bietet auch präventives Potenzial. So verhinderte die radikale Manipulation der Mikrobiota durch Antibiotika bei Mäusen die Entwicklung der EAE – aber nur präventiv. Nach Ausbruch der Krankheit hatten Antibiotika keinen Effekt mehr auf den Krankheitsverlauf.4

Zu diesem Schluss kommen auch Diätstudien. Bei ballaststoffreich ernährten Mäusen vermehrten sich protektive Bakterien der Gattung Enterococcus, die antiinflammatorische Immunantworten induzierten. Entsprechend erkrankten unter einer Ballaststoffdiät weniger Mäuse an EAE als unter einer fettreichen Diät. Die Inzidenz sank aber nur, wenn die Mikrobiota vor Krankheitsbeginn moduliert worden war. Eine Ernährungsumstellung nach Krankheitsbeginn hatte kaum Effekte auf den Krankheitsverlauf.5

Fazit für die Praxis

Das Mikrobiom ist essenziell für die Kontrolle der Autoimmunität im zentralen Nervensystem. Eine günstige Modulation der Mikrobiota durch ballaststoffreiche Kost bietet vor allem Potenzial für die Prävention von MS, weniger für die Therapie. Eine Diät kann zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht empfohlen werden.

Literatur:

1 Mues M et al. Nature Medicine. 2013; 19: 778-783. 2 Berer K et al. Nature. 2011; 479: 538-541.
3 Berer K et al. PNAS. 2017.
4 Gödel C. et al. J Neuroinflammation. 2020; 17(1): 79. 5 Berer K et al. Scientific reports. 2018; 8(1): 10431.

Bild-Quelle: Krishnamoorthy, privat

Aus: Sonder-Newsletter 1/2021, Hamburger Expertenkreis Mikrobiom (Initiative der FERRING Arzneimittel GmbH)